Der Verein „Ostpommern e. V. – Verein für Familienforschung und Heimatkunde“ bzw. vormals die Arbeitsgemeinschaft „Orts- und Familienforschung Schlawe“ veröffentlicht in der Pommerschen Zeitung, im Sedina-Archiv, in den Baltischen Studien und in der Zeitschrift Pommern.
Am 27.09.2003 erschien in der Pommerschen Zeitung der Artikel über das Schicksal des Altschlawer Pastors Hollatz und seiner Familie nach Kriegsende 1945.
Angst vor dem polnischen Nachbarn
Das Schicksal der Pastorenfamilie Hollatz aus Altschlawe 1945
Im vergangenen Jahr erschien als 2. Band der Reihe „Genealogische Schriften für Ostpommern“ die „Kirchenchronik der Parochie Altschlawe 1908-1933“. Basierend auf einem kürzlich wiederentdeckten Ausschnitt der ursprünglichen Chronik wird dem Leser in dieser aktuellen Veröffentlichung ein umfassender Einblick in das kirchliche und dörfliche Leben des ehemaligen Kirchspiels Altschlawe gegeben, zu dem auch Freetz, Stemnitz, Wilhelmine und Deutschrode gehörten. In der Einleitung des Buches wird der bekannte Werdegang der drei letzten Pastore Hugo Kersten, Ernst Braun und Paul Hollatz beschrieben, die in dem genannten Zeitraum die handschriftlichen Aufzeichnungen führten und dadurch einen lebendigen Zeitzeugenbericht aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hinterließen. Einer der Leser der Kirchenchronik war der Pastor i. R. Eberhard Jaeckel aus Darmstadt, Schwiegersohn des letzten Altschlawer Pastors Paul Hollatz. Herr Jaeckel wandte sich nach Erhalt des Buches an mich und schilderte in bewegender Weise die mir bis dahin unbekannten Einzelheiten des Lebens der Familie Hollatz, ihrer Verschleppung und ihres tragischen Sterbens nach Kriegsende. Wie das Schicksal aller Opfer verdient auch die Geschichte der Familie Hollatz erzählt zu werden. Ich möchte daher an dieser Stelle den Bericht von Herrn Jaeckel folgen lassen:
Pastor Paul Hollatz (geboren 1891 in Sorau/Lausitz) hatte im Jahre 1927 die Pfarrei des Kirchspiels Altschlawe übernommen. Als leidenschaftlicher Christ und Vertreter des Evangeliums engagierte er sich gemeinsam mit seiner Frau Elsbeth Hollatz, geb. Schmidt (geboren 1901 in Fürstenwalde) mit all seiner Kraft vor allem für die kirchlich-sozialen Einrichtungen seiner Zeit. Evangelische Frauenhilfe und Jugendarbeit waren Schwerpunkte seines Wirkens.
Bald nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten hatte er sich dem „Pfarrernotbund“ bzw. der „Bekennenden Kirche“ angeschlossen und somit in manchen Häusern seiner Gemeinde Anstoß erregt. Bis zum Kriegsende wurde er allein 17mal von der Geheimen Staatspolizei verhaftet und in Köslin verhört. In seinen Gottesdiensten saß stets ein einheimischer Spitzel, der die Predigten abhörte und dann weitermeldete. Nach der Schließung des pommerschen Predigerseminars von Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) in Finkenwalde bei Stettin im Jahre 1937 führte dieser es illegal in den Kreisen Köslin und Schlawe unter dem Schutz der beiden Superintendenten Friedrich Onnasch und Eduard Block weiter. Während dieser Zeit weilten Bonhoefer und die Anhänger seines Sammelvikariats auch mehrmals im Altschlawer Pfarrhaus.
Wie in der Kirchenchronik beschrieben, war Paul Hollatz ein „Visionär“, nicht nur in Hinsicht auf sein kirchliches und christliches Ideal. Auch sah er seit dem Beginn des Krieges die Zukunft äußerst klar. Stets versicherte er mir, dass Deutschland ihn nie gewinnen könne. In seiner Ansprache zu unserer Verlobung am 1. Januar 1945 betonte er seine Freude darüber, dass er nun auch wisse, mit wem sein Töchterchen Rosemarie (geboren 1924 in Sassen, Kreis Grimmen) einmal zusammenleben würde. Während das Leben und Überleben den Jungen noch möglich sei, würden seine Frau und er als die ältere Generation die Gefahren der Kampfhandlungen im eigenen Lande kaum überstehen. So sah er ihr Beider baldiges Ende klar, aber auch ohne Furcht, voraus. Gerade die Anerkennung seines unerschrockenen politischen Zeugnisses (mehr im persönlichen Gespräch als in seiner Predigtarbeit) und seines ganzen Einsatzes für die Gemeinde bis zum Lebensopfer, erfordert das ehrende Gedenken an dieses heimatliche Pfarrerehepaar.
Als sich die russischen Panzer Anfang März 1945 auch der Stadt Schlawe näherten, waren zunächst nur wenige Altschlawer zur Flucht aufgebrochen. Später musste Pastor Hollatz, der sich zum treuen Verbleib bei seiner Gemeinde entschlossen hatte, feststellen, dass der Ort inzwischen fast menschenleer war. Da setzte er sich mit seiner Familie und meinen Eltern mit ihrem vorbereiteten Fuhrwerk in Richtung Stolpmünde in Bewegung. Rosemarie, die als Medizinstudentin die letzten Wochen im Schlawer Krankenhaus bei der Versorgung der verwundeten Treckteilnehmer geholfen hatte, war erst am Tag zuvor ins Elternhaus nach Altschlawe zurückgekehrt. Hinter der Wipperbrücke bei Stemnitz erkannte Pastor Hollatz endgültig, dass eine Flucht infolge der Verstopfung aller Straßen unmöglich war. Er kehrte um und fuhr in Richtung Wilhelmine, wo sie in einem Bauernhaus freundlich aufgenommen wurden. Das Eintreffen der russischen Eroberer erlebte Familie Hollatz trotz Beraubung usw. relativ glimpflich und nach etwa drei Tagen entschieden sie sich zur Rückkehr nach Altschlawe. Dort gelang es dem Pastor, seine Tochter und zwei weitere Mädel in dem abgeschlossenen obersten Dachgiebel des Pfarrhauses vor der Einrichtung der russischen Kommandantur im Erdgeschoss in Sicherheit zu bringen.
Am 13. März wurden die Männer des Dorfes, darunter auch Pastor Hollatz zusammen mit meinem Vater, gefangen genommen und nach Schlawe in die Pollnower Siedlung im Walkmühlendamm geführt. Nach einigen Tagen kamen die Gefangenen nach Stolp und später nach Graudenz, Westpreußen, um von dort aus mit einem größeren Transport als Reparationsarbeiter nach Ostrussland verschleppt zu werden.
Am 15. März wurden dann die Altschlawer Frauen, also auch Frau Hollatz begleitet von meiner Mutter, nach Schlawe gefangen geführt und ebenfalls nach einigen Tagen in der Siedlung weiter nach Stolp getrieben. Für Elsbeth Hollatz bedeutete das alles eine ungeheure Anstrengung, weil sie noch keineswegs von einer Operation vor Weihnachten genesen war und bis zur Gefangennahme das Bett gehütet hatte. Nach dem Aufenthalt in einer Stolper Fabrikhalle wurden die beiden Frauen mit vielen anderen nach den Osterfeiertagen in Güterwagen verladen und erreichten nach etwa 2 Wochen ebenfalls Graudenz.
Hier griffen Ende April anwesende US-Offiziere ein und zwangen die Russen zur Freilassung der Frauen, die sie dann bis zur Weichsel brachten und dort auf den Heimweg nach Pommern schickten. Es waren immerhin mindestens 300 km, ohne jede Nahrung, außer Baumwurzeln oder angefrorenen Rüben vom Acker. Frau Hollatz schaffte – trotz der Unterstützung durch meine Mutter – nur langsam den Weg und am dritten Tag versagten ihre Kräfte völlig. In dem Ort Zellgosch, Kreis Pr. Stargard fanden Sie Unterbringung auf dem Hof einer deutschen Familie. Aus Angst vor den polnischen Nachbarn ließen diese die Frauen jedoch nicht ins Haus treten. So legte meine Mutter Frau Hollatz an einen Obstbaum in der Mitte des Hofes angelehnt und betreute sie, bis sie in der Nacht des 3. Mai 1945 ruhig einschlief. Vorher hatte sie noch Grüße – außer an Rosemarie – auch an alle Frauen der Frauenhilfen im Kirchspiel Altschlawe bestellt.
Der Bürgermeister erlaubte dann die Bestattung auf einem ehemaligen deutschen Friedhof in ca. 1 km Entfernung. Für den Transport lieh die Wirtsfrau einen Ziehwagen und dann brachte meine Mutter die Verstorbene an den angegebenen Ort und verscharrte sie dort ein wenig, weil das Ausheben einer Grube bei dem gefrorenen Boden und nur mit den Händen als Werkzeug nicht möglich war. Wir besuchten im Jahre 1976 den Friedhof, fanden jedoch keine Andeutung der betreffenden Ruhestätte.
Meine Mutter machte sich dann auf den Weiterweg, wo sie nach etwa 4 Wochen in Altschlawe eintraf, um Rosemarie Bericht zu erstatten, und die Grüße zu übermitteln. Diese hoffte nun sehnlichst auf ein Lebenszeichen des Vaters. Paul Hollatz war bis in den Ural verschleppt worden, wo er im Lager Mogilnew zur Waldarbeit gezwungen wurde, bis auch seine Kräfte völlig gebrochen waren. Schließlich wurde er mit anderen entkräfteten Männern nach Deutschland entlassen, den Heimtransport aber überlebte er nicht. Drei Stationen vor der neuen Grenze in Frankfurt/Oder verstarb er am 9. Oktober 1945 und wurde von den Mitfahrenden in einen Schützengraben entlang der Gleise gelegt, wo er seine letzte Ruhestätte fand. Eine Bibel, die er einem Begleiter übergeben hatte, kam nicht mehr in die Hand seiner Tochter, weil auch dieser Mann bald nach seiner Heimkehr verstorben war.
Rosemarie wurde nach der Verschleppung ihrer Eltern die ganze Zeit über in ihrem Versteck im Pfarrhaus von Frau Hoeppner von der Schlawer Ziegelei versorgt, welche auch für die ca. 20 ostpreußischen Flüchtlinge im Altschlawer Jugendheim in der Pfarrscheune das Essen zubereitete. Kinder konnten – von den Russen unbehelligt – das Essen in die Verstecke der Mädchen schmuggeln. Eine erhebliche Erleichterung ergab sich durch den Wegzug der Russen nach der Kapitulation im Mai und den Einzug eines jungen polnischen Kaplans im Pfarrhaus, so dass sie sich nun frei im Hause bewegen konnte. In dieser Zeit empfing sie auch meine Mutter, die sie nach der langen Hungerstrecke erst ganz langsam wieder an rechte Kost gewöhnen musste. Viele andere Heimkehrerinnen verstarben bald nach ihrem Eintreffen.
Im September 1945 wurde Rosemarie dann aus ihrem Elternhaus ausgewiesen. Gemeinsam mit Frau Pastor Maechler aus Schlawe und deren beiden Kindern kam sie zunächst nach Berlin, wo sie schließlich im Johannesstift eine Arbeitsstelle als Schwester fand. Als sie von meinem Überleben erfuhr, machte sie sich auf den Weg nach Marburg/Lahn, wo ich inzwischen einen Wohnort gefunden hatte. Am Heiligen Abend 1945 traf sie dort ein und im Januar erhielt sie von einem Alt-Warschower Mitgefangenen die Nachricht vom Tode ihres Vaters.
Im darauffolgenden September wurden wir von Superintendent Eduard Block in Holzhausen, Kreis Biedenkopf getraut. Leider verstarb Rosemarie dann am 13. Februar 1949 im Alter von nur 24 Jahren, am Tag der Geburt unseres ersten Sohnes Wilfried.
Mathias Sielaff: Die Kirchenchronik der Parochie Altschlawe 1908 – 1933; 128 Seiten DIN A4-Format, eine Landkarte, diverse Fotos; Preis: 15 EURO, zzgl. Versand.
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